Einleitung: Wenn das Produkt zuerst spricht
Wie informieren sich Kaufentscheider heute über neue Lösungen? Sie rufen selten als erstes im Vertrieb an. Stattdessen testen sie Tools, lesen Bewertungen, vergleichen Funktionen – und treffen oft schon 80 % der Entscheidung, bevor überhaupt ein Verkaufsgespräch stattfindet.
Genau hier setzt Product-Led Growth (PLG) an: ein Go-to-Market-Ansatz, bei dem das Produkt selbst zum stärksten Vertriebskanal wird. Das Prinzip: Wer überzeugt, gewinnt. Und zwar nicht mit Hochglanzpräsentationen, sondern mit echten Nutzungserlebnissen.
Auch wenn PLG vor allem aus der SaaS-Welt stammt, ist es heute ein Modell, das auch im Mittelstand an Relevanz gewinnt. Denn das B2B-Kaufverhalten hat sich verändert – und Unternehmen, die darauf nicht reagieren, verlieren an Sichtbarkeit, Effizienz und Kundenbindung.
Ich habe PLG in der Praxis eingeführt, optimiert und an seine Grenzen geführt. In meiner Zeit bei Xempus haben wir versucht, den Ansatz in einem komplexen Versicherungsumfeld zu etablieren. Was funktioniert hat, was nicht – und was andere Unternehmen daraus lernen können, teile ich in diesem Beitrag.
1. Was ist Product-Led Growth – und warum reden alle darüber?
Product-Led Growth beschreibt einen Go-to-Market-Ansatz, bei dem das Produkt selbst der wichtigste Hebel für Wachstum ist. Statt teurem Vertrieb im Vorfeld erleben potenzielle Kundenteams das Produkt – oft kostenlos, in einer Trial-Version oder Freemium-Variante – und entscheiden dann, ob und wie sie es nutzen wollen.
Die Grundlage dieses Ansatzes wurde insbesondere durch Wes Bush geprägt, der in seinem Buch Product-Led Growth die wichtigsten Prinzipien und Frameworks beschreibt. Eines der zentralen Konzepte darin ist, dass das Produkt nicht nur Nutzen liefern, sondern aktiv zur Kundenkonversion beitragen soll. Bush betont dabei vor allem drei Elemente: Erlebbarkeit vor Kaufentscheidung, produktbasierte Nutzerqualifikation (z. B. durch Product Qualified Leads) und eine kontinuierliche Verbesserung des Nutzererlebnisses auf Basis von Daten.
Typische Merkmale:
- Self-Service Onboarding
- Datengetriebene Personalisierung entlang der Nutzung
- Nahtlose Integration von Marketing, Produkt, Vertrieb & Customer Success
- Nutzungssignale als Trigger für Kommunikation und Upselling
Bekannte Beispiele dafür sind Tools wie Pipedrive oder Brevo.. Aber auch für klassische B2B-Unternehmen ist das Modell adaptierbar – wenn es strategisch gedacht wird.
2. Warum PLG auch für mittelständische Unternehmen funktioniert
Viele KMU schrecken vor PLG zurück, weil sie den Ansatz für zu technikgetrieben oder „startup-haft“ halten. Dabei geht es nicht darum, alles auf den Kopf zu stellen. Sondern darum, die realen Kaufprozesse der heutigen Zeit abzubilden.
Drei gute Gründe, warum PLG im Mittelstand funktioniert:
- Transparenz statt Verkaufsversprechen: Wer seine Software testen kann, trifft bessere Entscheidungen – und ist langfristig zufriedener.
- Automatisierung entlastet Vertrieb: Statt Leads manuell zu qualifizieren, liefert die Produktnutzung klare Signale, wer kaufbereit ist.
- Loyalität statt schneller Abschlüsse: Wer mit dem Produkt startet und nicht mit dem Sales-Pitch, bleibt länger – und empfiehlt es weiter.
Voraussetzung: Das Produkt muss dafür gebaut sein. Komplexe Setups ohne selbsterklärende UX oder mit hohem Customizing-Bedarf eignen sich nur eingeschränkt.
Zudem braucht es eine gewisse organisatorische Reife: PLG funktioniert nur, wenn Marketing, Produkt und Customer Success eng abgestimmt sind und datengetrieben arbeiten. In traditionellen Unternehmensstrukturen ist diese Zusammenarbeit oft eine Herausforderung – aber genau hier liegt auch ein enormes Potenzial zur Effizienzsteigerung.
3. Meine PLG-Erfahrungen bei einem InsureTech: Klarheit durch Daten, Learnings durch Grenzen
2020 haben wir begonnen, das Produkt als Einstieg in die Customer Journey zu denken. Grundlage war die Methode aus dem Buch von Wes Bush („Product-Led Growth„). Ich habe zudem ein offizielles Product-Led Growth Zertifikat abgeschlossen, um den Ansatz fundiert im Unternehmen zu verankern.
Wir haben:
- Ein Flywheel-Modell eingeführt statt des klassischen Funnels
- Dashboards aufgebaut, um Nutzungssignale sichtbar zu machen
- Product Qualified Leads (PQLs) definiert und segmentiert
- Onboarding Journeys automatisiert
- Kommunikation entlang des Customer Lifecycles aufgebaut
- Zertifizierungen im Unternehmen eingeführt, um die Methode zu verankern
Das Ziel: Wachstum über ein herausragendes Produkterlebnis. Eine gute visuelle Darstellung dieses Ansatzes bietet das PLG Flywheel-Modell, das unterschiedliche Nutzerphasen (z. B. Evaluators, Beginners, Regulars, Champions) zirkulär abbildet und so den dynamischen Charakter der Customer Journey unterstreicht. (Siehe Abbildung oben.)
Was wir gelernt haben:
- Bei komplexen, beratungsintensiven Produkten wie in der Versicherungsbranche ist PLG nur eingeschränkt skalierbar.
- Die richtige Produktstruktur ist erfolgskritisch: Ohne Self-Service-Funktionen, klare Nutzenkommunikation und intuitive UX funktioniert PLG nicht.
- Der größte Wert lag in der besseren Verzahnung von Marketing, Produkt und Customer Success.
Ich bin weiterhin überzeugt vom PLG-Ansatz – aber: Nicht jedes Produkt ist ein PLG-Produkt.
4. Drei Hebel für PLG im Mittelstand
Auch wenn ein vollständiger Wechsel zu PLG nicht immer sinnvoll ist: Viele mittelständische Unternehmen können Elemente davon nutzen, um ihre Go-to-Market-Strategie zu modernisieren.
1. Onboarding automatisieren Begrüßung, erste Schritte, Checklisten, Tipps: Was bisher im Sales-Handout stand, kann heute als automatisierter Workflow direkt im Produkt oder via E-Mail passieren.
2. Nutzungssignale auswerten Wer welche Funktionen nutzt, wie oft, in welchem Zeitraum – diese Daten liefern echte Insights, um personalisierte Kommunikation zu steuern.
3. Customer Lifecycle denken PLG endet nicht beim Trial. Entscheidend ist die kontinuierliche Aktivierung und das konsequente Arbeiten mit Retention-Daten, um CLV (Customer Lifetime Value) zu steigern.
Ergänzend ist es sinnvoll, regelmäßig qualitative Nutzerrückmeldungen einzuholen – z. B. durch In-App-Umfragen oder kurze Interviews. Diese Erkenntnisse fließen dann direkt in Produktoptimierungen und Personalisierungslogiken ein.
Auch die Integration mit bestehenden CRM-Systemen wie HubSpot, Pipedrive oder Salesforce ist essenziell, um Marketing Automation und Sales Enablement nahtlos mit der Produktnutzung zu verknüpfen. Nur so entsteht ein geschlossenes Datenmodell, das von der Trial-Phase bis zur Advocacy alle Stufen der Customer Journey umfasst.
5. Retention statt Sales-Druck: Warum PLG zukunftsfähiger ist
Ich habe in meiner Laufbahn beides erlebt: Sales-gesteuerte Kaufprozesse, die am Ende in teuren Tools mündeten, die niemand nutzen wollte – und Trial-basierte Entscheidungen, bei denen die Nutzung überzeugt hat.
Ein konkretes Beispiel: Salesforce Marketing Cloud. Gekauft nach einem starken Pitch, ohne Testphase. Am Ende: hoher Aufwand, unpassendes Setup, unzufriedene Nutzer. Hätte ich es testen können, wäre es nie gekauft worden.
Das Gegenteil: Tools wie Pipedrive oder Brevo. Trial genutzt, für gut befunden, gekauft, weiterempfohlen.
Was das zeigt:
Wer vorne aggressiv verkauft, aber hinten nicht liefert, gewinnt keine loyalen Kunden mehr.
Retention ist heute wichtiger als kurzfristiger Umsatz. Und PLG ist in meinen Augen die ehrlichste Form des Verkaufs: Das Produkt zeigt, was es kann. Und wenn es überzeugt, verkauft es sich.
Dieser Ansatz sorgt nicht nur für bessere Kaufentscheidungen, sondern auch für einen langfristig höheren CLV (Customer Lifetime Value). Denn zufriedene Nutzer:innen bleiben nicht nur länger, sondern werden zu aktiven Empfehlern. Das senkt gleichzeitig die CAC (Customer Acquisition Cost), weil Empfehlungen organisch neue Leads generieren.
Bonus: Mein Zertifikat als PLG-Expertin

Um meinen PLG-Ansatz fundiert aufzubauen, habe ich eine offizielle Zertifizierung als Product-Led Growth Expert abgeschlossen. Das Programm vermittelte praxisnah die Prinzipien von Wes Bush, inklusive Frameworks zur Nutzeraktivierung, Trial-Optimierung und Lifecycle-Kommunikation.
Fazit: PLG ist eine Haltung
Product-Led Growth ist keine Methode, die man einfach überstülpen kann. Es ist eine grundsätzliche strategische Haltung:
- Kunden dürfen erleben, bevor sie kaufen
- Daten ersetzen Bauchgefühl
- Marketing, Produkt und Customer Success arbeiten gemeinsam
Gerade für mittelständische Unternehmen bietet PLG die Chance, ihre Kundengewinnung ehrlicher, skalierbarer und nachhaltiger zu gestalten. Nicht als dogmatischer Umbruch, sondern als evolutionäre Weiterentwicklung.
Wer seine Tool-Landschaft klar strukturiert, mit Trials arbeitet, produktbasierte Daten auswertet und den Nutzer konsequent in den Mittelpunkt stellt, schafft eine Basis für langfristiges Wachstum – ganz ohne Verkaufsdruck.
Und das ist es, worauf es am Ende ankommt: Produkte, die wirklich passen. Kunden, die bleiben. Und ein Marketing, das Vertrauen schafft – nicht Erwartungen, die später enttäuscht werden.